Perspektive

»Da ist aber ein Perspektivfehler drin.« Sophia beugt sich über mein Manuskript und tippt auf die Textstelle. »Dein Protagonist kann gar nicht sehen, was hinter seinem Rücken geschieht.«
»Dohoch!«, widerspreche ich. »Ich schreib ja in der Er-Perspektive!«
Mit diabolischem Grinsen zückt sie meinen, jawohl, meinen (!) Rotstift und kringelt wahllos Wörter ein. »Hier … hier und hier. Auch wenn die dritte Person Singular einen glauben lässt, dass es sich um einen homodiegetischen Erzähler handeln könnte – aber es ist die Autodiegese –, weist die erlebte Rede auf die interne Fokalisierung hin.«
»Wie bitte?!«
»Deine Lektorin wird es nicht gut finden, wenn du mehrere Satzzeichen hintereinanderklatschst. Wir sind doch nicht bei Facebook.«
»Mehrere? Das waren exakt zwei. Und außerdem heißt das Interrobang[1]!!!!«
»Dein Fragerufzeichen geht übrigens so, okay‽ Und außerdem besteht es aus exakt einem Zeichen.«
Ich sauge die Luft scharf durch die Nase ein. Die Radierkrümel auf dem Tisch erzittern. Sophia hingegen lächelt und lässt sich nicht von meinem Schnaufen verunsichern. Mein Blick pendelt zwischen meinen filigranen Bleistiftnotizen am Rand und ihren lektorenroten Lassos, die meinen Worten der Freiheit berauben. Es reicht ja schon, dass Sophia mich überzeugt hat, meinen Protagonisten nicht über seine eigene Haarfarbe und Augenfarbe sinnieren zu lassen. Dabei ist Paraiba-Turmalin-Grün so sexy.
Heimlich wühle ich in meiner Handtasche nach dem Handy und gebe unterm Tisch die Suchanfrage »was zum Teufel ist interne Fokalisierung OR Autodiegese« ein. Nach 0,82 Sekunden spuckt mir Google ungefähr 429 Ergebnisse aus. Diese Erzähltheorie stammt von einem Literaturwissenschaftler aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg.
Aha.
Ich schlage die Hände vor die Augen, um zu verbergen, dass ich sie verdrehe. »Sophia-Schatz‽ Dein Homoautodiegesenfokus-Typenkreis ist ein veraltetes Modell, um Literatur zu analysieren.«
»Moment«, unterbricht sie mich. »Du wirfst gerade Genette und Stanzel durchein–«
»Das ist mir so was von egal«, unterbreche ich sie zurück, denn ich will das letzte Wort haben. Wörter sind für Autoren lebenswichtig. Und das letzte Wort gibt 3W8 + 8 Lebenspunkte.
Mitleidig legt meine Autorenkollegin die Hand auf meinen Unterarm – schnell lasse ich das Handy in die Tasche zurückgleiten, damit sie nicht merkt, dass ich recherchiert habe – und klaut mir mit einem resignierten Seufzen die letzten Wörter. »Trotzdem solltest du die Grundlagen kennen. Wenn du nicht die Schönheit der Erzähltheorie begreifen möchtest, solltest du als Autor zumindest wissen, welche Perspektiven es gibt.«
Ich tu so, als würde ich zustimmend nicken, reiße währenddessen die Ecke von meinem Manuskript ab und stecke mir das Stückchen Papier mit dem Aufdruck »Ende« in die Hosentasche.
Das letzte Wort gehört mir.




→ Beim Er-Erzähler gibt es drei verschiedene Perspektiven.


Auktoriale Erzählsituation


Der auktoriale Erzähler ist allwissend[2], denn er befindet sich außerhalb der fiktionalen Welt[3]. Er kennt den Ausgang und das Ende. Er kennt Details, die niemand in der Geschichte entdeckt. Er kennt das Innenleben – die Macken, Wünschen, Stärken und Schwächen – der Figuren, während sie sich deren nicht einmal bewusst sind. Daher kann er dem Leser erläutern, weshalb die Figur so tickt und handelt.
Der auktoriale Erzähler entscheidet, welche und wie viele Informationen und Appetithäppchen er dem Leser gibt. Er bestimmt das Erzähltempo, kann in die Zukunft blicken oder in der Vergangenheit wühlen und im direkten Dialog mit dem Leser auf Probleme hinweisen oder zum Nachdenken anregen.

Neutrale Erzählsituation

Der neutrale Erzähler[4] befindet sich in der Geschichte, mischt sich aber nicht ein. Er ist ein stiller Beobachter und schildert, ohne zu urteilen, was er sieht. Er verzichtet auf Rückblicke, Vorausdeutungen und persönliche Meinung.
Man muss aufpassen, keine Wertung in die Wörter zu legen. Der neutrale Erzähler kann erkennen, dass jemand sein Gegenüber von Kopf bis Fuß mustert, jedoch weiß er nicht, ob dies anerkennend oder abschätzig geschieht. Er weiß auch nicht, ob sich die beobachtete Person geschmeichelt fühlt oder ob es ihr unangenehm ist, weil jemand mit unverschämten Blicken die Kleidung vom Leib reißt.

Personale Erzählsituation

Der personale Erzähler schlüpft in den Kopf des Perspektivträgers[5] und kann nur wahrnehmen, was die Figur sieht und hört. Während die anderen beiden Erzählsituationen auf Distanz bleiben, kann man bei der personalen Perspektive ganz nah an die Figur herangehen, sogar mit ihr verschmelzen. Der Leser sieht die Welt durch die Augen der Figur.
Dies kann man mit der Wortwahl unterstützen, denn der personale Erzähler ist emotional und unmittelbar. Statt die Wahrnehmungen zu erklären, kann man direkt die Gefühlswelt eintauchen. Eine Figur denkt nämlich nicht aktiv über die Tatsache nach, dass sie in dem Moment einen Gedanken fasst, etwas optisch oder akustisch wahrnimmt oder sich etwas einbildet. Sie analysiert selten die eigenen psychologischen Vorgänge.

Da sein Kollege ihm wie jeden Morgen die Parklücke weggeschnappt hatte, fühlte er sich frustriert. Auf dem verlängerten Fußweg zu seiner Arbeitsstelle, welches eine wiederholte Verspätung mit sich zog, äußerte sich der Frust durch einen Wutausbruch, bei dem er sich an einer Mülltonne ausließ. Als er wahrnahm, wie sie mit einem lauten Scheppern auf den Boden aufschlug, zuckte er zusammen.
Warum schnappte ihm dieser Mistkerl jeden Morgen den Parkplatz weg? Jetzt würde er wieder zu spät kommen! Mit einem Aufschrei trat gegen die Mülltonne. Scheppernd schlug sie auf den Boden auf und er zuckte zusammen.



Diskussion für die Prokrastinierenden:

Muss man als Autor analysieren können – sei es in den eigenen oder in fremden Werken – welche Erzählsituation benutzt wurde? Oder ist dies ein falscher Ansatz, da Verfassen von Texten eine andere Tätigkeit ist die Einordnung in Kategorie?
Welche Erzählperspektive bevorzugst du? Wählst du sie aus bewusst und aus handwerklichen Gründen, oder weil es für dich am natürlichsten ist, in einer bestimmten Sicht zu schreiben? Welche Vorteile der gewählten Erzählsituation nutzt du gern und durch welche Eigenschaften fühlst du dich eingeschränkt?

Aufgabe für die Kreativen:

Beschreibt das Bild in den drei verschiedenen Perspektiven und nutzt dabei die Besonderheiten der jeweiligen Erzähltechniken aus.





[1] Jupp. Das Zeichen Interrobang gibt es tatsächlich.
[2] Gérard Genette nennt dies Nullfokalisierung, also nicht auf eine Figur fokussiert, sondern übergeordnet und allwissend.
[3] Nach Genette extradiegetisch, extra ‚außen‘ und diegesis ‚Erzählung‘.
[4] Externe Fokalisierung, die Sicht von außen.
[5] Interne Fokalisierung.